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3 results
05.02.2025

Integral flachgestrickte Drucksensoren für smart Textiles

Knittings Sensor Technology Smart Textiles Tests

Abstract

Im IGF-Projekt 21990 BR1 wurde das „Textiles Smart-Skin-3D-System (S3D)“ entwickelt – ein innovatives, flachgestricktes Sensorsystem, das Druck- und Näherungsmessungen nahtlos in textile Produkte integriert. Ziel war es, flexible und robuste Sensorik bereits im Herstellungsprozess einzubetten und so die Komplexität sowie potenzielle Schwachstellen herkömmlicher Mehrkomponentensysteme zu vermeiden. Hierzu wurden komplexe 3D-gestrickte Strukturen realisiert, die leitfähige Sensorgarne und gezielt eingearbeitete dielektrische Materialien wie silikonbasierte Inserts nutzen, um kapazitive Messprinzipien anzuwenden.

Die Optimierung von Garnauswahl und Strickparametern ermöglichte eine präzise Erfassung von Druckkräften und Annäherungen. Als Demonstrator wurde ein vollständig integrierter Sensorhandschuh mit 13 Sensorflächen entwickelt, der Greif- und Haltekräfte misst. Zyklische elektromechanische Prüfungen bestätigten ein stabiles Sensorverhalten. Insbesondere zeigte die Variante mit einem 1 mm starken Dielektrikum optimale Übertragungscharakteristika, geringe Hysterese und eine Sensordrift im akzeptablen Rahmen. Zusätzlich erbrachte ein textilbasierter Näherungssensor zuverlässige Messwerte für Abstände bis zu 120 mm.

Die Ergebnisse belegen das Potenzial flachgestrickter Sensoren als integraler Bestandteil smarter, tragbarer Textilien – mit Anwendungsmöglichkeiten in Telerehabilitation, Medizintechnik, Arbeitsschutz und weiteren Digitalisierungsbereichen.

Summary

In the IGF project 21990 BR1, the “Textiles Smart-Skin-3D-System (S3D)” was developed – an innovative, flat-knit sensor system that seamlessly integrates pressure and proximity measurements into textile products. The aim was to embed flexible and robust sensor technology into the manufacturing process, thereby avoiding the complexity and potential weaknesses of conventional multi-component systems. To achieve this, complex 3D-knit structures were created using conductive sensor yarns and strategically incorporated dielectric materials, such as silicone-based inserts, to implement a capacitive sensing approach.

Optimizing yarn selection and knitting parameters enabled the precise detection of pressure forces and proximity. A demonstrator in the form of a fully integrated sensor glove with 13 sensing areas was developed, capable of measuring gripping and holding forces. Cyclic electromechanical tests confirmed stable sensor performance. In particular, the variant with a 1 mm thick dielectric exhibited optimal transfer characteristics, low hysteresis, and acceptable sensor drift. Additionally, the textile-based proximity sensor reliably measured distances of up to 120 mm.

The results demonstrate the potential of flat-knit sensors as an integral component of smart, wearable textiles with applications in telerehabilitation, medical technology, occupational safety, and other digitalization sectors.

Report

Einleitung

Vor dem Hintergrund globaler Megatrends wie der Digitalisierung in der Medizin bestehen für die Textilindustrie große Chancen, vom erwarteten weiteren Wachstum von am Körper tragbaren, flexibel einsetzbaren und computergestützten Systemen zu profitieren. Zu dieser neuen Geräteklasse, den sogenannten Wearables, gehören Textilien, die über die klassischen Funktionen von Bekleidung oder beispielsweise Bandagen hinaus mit elektronischen Zusatzfunktionen ausgestattet sind. Da Textilien häufig die Schnittstelle zwischen dem Menschen und seiner Umwelt darstellen, sind sie prädestiniert, auch bei der Digitalisierung menschlicher Wahrnehmungen und Fähigkeiten (z. B. Bewegungen, Haptik etc.) und umgekehrt der Rückkopplung von der virtuellen in die analoge Welt eine entscheidende Brückenfunktion zu übernehmen und so als künstliche Haut (bzw. Smart Skin) bestehende optische und akustische Schnittstellen zu ergänzen.

Ein Bereich in dem smarte Textilien einen großen Zugewinn nützlicher Informationen bereitstellen, ist die Medizin und Rehabilitationstechnik. Vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung und damit einhergehend einer hohen Belastung medizinischer Versorger, die unter gleichzeitigem Personalmangel leiden, ist nicht immer ein ausreichendes Angebot in erreichbarer Nähe realisierbar. Vor allem im Bereich der medizinischen Folgebehandlungen für Physiotherapie einhergehend mit langen Transportwegen oder fehlender Transportfähigkeit des Patienten kann dies zu Heilungsverlangsam oder sogar -verhinderung führen. Eine Unterstützung von Patienten durch einen medizinischen Laien (Familienangehörige, Bekannte etc.) mit einem geringfügigen Lernaufwand soll durch den in diesem Projekt entwickelten Handschuh ermöglicht werden. Dieser ermöglicht die Überwachung von Greif- und Haltebewegungen sowie Feedback zur Korrektur. In der Telerehabilitation gibt es keine vergleichbaren Systeme, die autonom ohne Experteneinsatz arbeiten [1, 2]. Das Projekt fokussierte auf die Entwicklung multifunktionaler Druck-/ Näherungssensorik durch flachstricktechnische Verfahren. Diese ermöglichen die kostengünstige Integration in Funktionsbekleidung, aber auch in Roboterkomponenten.

Zielsetzung und Lösungsweg

Das Ziel des IGF-Forschungsprojekts war die Entwicklung, Charakterisierung und Erprobung textilbasierter Drucksensoren, die mittels Flachstricktechnik in einen Handschuh integriert werden sollten um die aufgebrachte Kraft auf den Fingergliedern und dem Handballen zu überwachen. Es wurden flächenbasierte, gestrickte Sensorkonzepte mit einem kapazitiven Messprinzip verfolgt. Die entwickelten Sensoren wurden mittels zyklischer elektromechanischer Druckprüfungen untersucht und eine Vorzugsvariante der Sensoren zur Integration in einem Funktionsdemonstrator ermittelt. Weiterhin wurden kapazitive Näherungssensoren entwickelt und evaluiert.

Ergebnisse

Entwicklung der gestrickten Drucksensoren

Für die Entwicklung der Sensoren wurde die Umsetzung eines kapazitiven Drucksensors mithilfe von Flachstricktechnik verfolgt. Die Vorteile kapazitiver Sensoren gegenüber resistiver Sensoren liegen in ihrer Unempfindlichkeit gegenüber Temperatur [3], was in einer körpernahen Anwendung von Vorteil ist. Der einfachste Aufbau eines Kondensators ist der Plattenkondensator. In diesem Aufbau sind zwei parallele Platten durch ein Dielektrikum getrennt. Durch das Aufbringen einer Druckkraft F auf diese Platten und damit ein Zusammendrücken des Dielektrikums mit der Dielektrizitätskonstante  ε ändert sich der Plattenabstand d und somit die Kapazität C wie in Abbildung 1 gezeigt. Hier wird deutlich, dass die Kapazitätsänderung ∆C indirekt proportional zur Änderung des Plattenabstands ∆d, die wiederum abhängig ist von der induzierten Kraft, dem E-Modul E und den geometrischen Maßen des Plattenkondensators mit b = Breite und l = Länge.

Für den Aufbau der gestrickten kapazitiven Sensoren wurden verschiedene Konzepte erstellt, die in Abbildung 2 dargestellt sind. Anhand einer systematischen Variantenbewertung nach ergonomischen, stricktechnischen, sensortechnischen Anforderungen und praktischer Versuchstests wurde eine Sensorvariante mit einem Insert als Dielektrikum und einer vollflächigen Elektrode aus leitfähigem Garn als Vorzugsvariante gewählt und zu einer Handschuhfinger gleichenden Doppelschlauchstruktur erweitert.

Zur Auswahl des Elektrodengarns wurden Vorversuche durchgeführt um die stricktechnische Eignung der teilweise anspruchsvoll zu verarbeitenden Garne auf Stahl- und Silberbasis zu bewerten. Hierbei wurden Garne von Statex (Shieldex® 235 f 36dtex Z130), Amann (Steel-tech® 100 tex 93, Silver-tech+® 150 tex 22) und Bekaert (Bekinox® VN 14.1.9.100Z) genutzt. In diesen Vorversuchen erwies sich Silver-tech+® 150 als Vorzugsvariante, da es sehr gut mit dem umgebenden Basismaterial aus Umwindegarn (Tencel CV Nm40 mit PA6.6 78/78f23/1) fertigungstechnisch kompatibel war.

Herstellung der Sensoren

Ziel des Projekts war die Herstellung eines Sensorhandschuhs mittels Flachstricktechnik, eine Strickmethode, die die Möglichkeit bietet Fully Fashioned Artikel in einem Arbeitsschritt herzustellen, wodurch komplizierte gestrickte Flächen endkonturnah hergestellt werden können. Um ein höchstmöglich automatisiert herstellbares Produkt zu entwickeln wurde der Drucksensor mit einem Fokus auf Vermeidung nachfolgender Konfektionierungsschritte entwickelt. Daher wurde der Drucksensor als eine Doppelschlauchstruktur konzeptioniert. Diese wird durch zwei Elemente geformt: Zum einen durch die Tasche des Sensors, zum anderen durch einen Fingerling, der eine Tragbarkeit des Sensors ermöglicht. In Abbildung 3 ist der Aufbau schematisch dargestellt. Im Sensorbereich ergibt sich daher ein dreilagiges Doppelschlauch-gestrick. Das umfasst die äußere sowie innere Elektrode und die Rückseite des Fingers. Das Dielektrikum wird durch ein Insert, welches während des Strickprozesses eingelegt wird, gebildet. Diese Variante des Konzeptes ermöglicht eine weitestgehend automatisierte Fertigung des Handschuhs an der Flachstrickmaschine ohne nachgelagerte Konfektionsschritte. Für die Einbringung des Dielektrikums ist eine Unterbrechung des Strickprozesses erforderlich.

Validierung der Sensoren

Die gestrickten kapazitiven Sensoren wurden auf ihre Eignung als Drucksensor in zyklischen elektromechanischen Messungen überprüft. Der Versuchsaufbau mit Mess- und Versuchsgeräten sowie der Prüfablauf sind in Abbildung 4 dokumentiert. Um den Einfluss des Dielektrikums zu untersuchen, wurden Sensoren mit einem 2 mm und einem 1 mm starken silikonbasierten Dielektrikum hergestellt. Aus den ermittelten Daten wurden das Übertragungsverhalten (als Zusammenhang zwischen Kompressionskraft und Sensorsignal), die Sensordrift (als Signalwerte bei Entlastung der Sensoren) und die Hysterese (als maximale Differenz zwischen Be- und Entlastungskurve über den Messbereich) berechnet (siehe Abbildung 5).

Es zeigte sich, dass beide Varianten ein stabiles Sensorverhalten aufweisen, wobei die Sensorvariante mit einem 1 mm starken Dielektrikum bessere Ergebnisse im Übertragungsverhalten und in Hysterese zeigte. Die Sensordrift lag hier etwas höher, lag aber bei beiden Varianten unter 5 % und damit in einem, für praktische Anwendungen dieser Technologie, akzeptablen Bereich. Dieser Versuch zeigte, dass das Dielektrikum einen entscheidenden Einfluss auf das Sensorverhalten hat und dieses durch die relativ kleine Anpassung des Insertmaterials für verschiedene Messbereiche und -sensitivitäten angepasst werden kann. Weitere Ausführungen, Ergebnisse und Diskussionen können aus der Publikation in [4] entnommen werden.

Näherungssensor

Das Konzept für die textile Näherungssensorik wurde mit einer einzelnen textilen gestrickten Elektrode und einem Arduino Uno umgesetzt. Für die Versuchsdurchführung wurde eine menschliche Hand als zu erfassendes Objekt an den Sensor geführt und der Abstand zwischen Hand und Sensor gemessen. In Abbildung 6 sind das Sensorsignal und korrelierte Abstände der Hand dazu gezeigt, sowie das Schaltbild dargestellt. Hierbei konnten Abstände von bis zu 120 mm zur Hand noch erfasst werden mit einer guten Signalstabilität, sodass hier eine Quantifizierung des Abstands denkbar ist.

Demonstrator

Die Vorzugsvariante für den Druck- und Näherungssensor wurde übertragen auf einen vollständig gestrickten und integral gefertigten Handschuh mit 13 Sensoren, wobei 2 Sensorflächen für Daumen, 3 Sensorflächen für Zeige- und Mittelfinger und 5 Sensorflächen auf der Handfläche für die Erfassung von Kräften realisiert wurden. Der finale Funktionsdemonstrator ist in Abbildung 7 gezeigt. Die elektrischen Zuleitungen wurden für diesen FD manuell realisiert. Eine sensorische Funktionalisierung des Ringfingers und des kleinen Fingers war durch die begrenzte Anzahl an Fadenführern innerhalb der Strickmaschine nicht möglich (max. 13 Sensorflächen). Die Signale der einzelnen Sensoren wurden mittels eines RaspberryPi 5 und einer dafür entwickelten Software ausgewertet. In verschiedenen Greiftests wurden die Sensoren validiert. Bei allen funktionsfähigen Sensoren konnte ein verlässlicher Anstieg des Signals bei Kompression erfasst werden.

Zusammenfassung und Ausblick

Die Verwendung textiltechnischer Lösungen zur Überwachung des menschlichen Körpers und der auf ihn wirkenden Lasten ist ein vielversprechendes Forschungsfeld, das Anwendungen in der Physiotherapie, im Arbeitsschutz und in der Digitalisierung von Arbeitsprozessen ermöglicht. Im Rahmen dieses Projekts lag der Fokus auf der Entwicklung und Integration von Druck- und Näherungssensoren in textile Strukturen. Dabei wurden innovative textilbasierte Ansätze verfolgt, insbesondere die Herstellung vollständig textilintegrierter Sensoren im Fully-Fashioned-Verfahren. Im Gegensatz zu herkömmlichen Systemen, die oft aus vielen Einzelkomponenten bestehen und dadurch Schwachstellen aufweisen, bieten textilbasierte Sensorsysteme eine höhere Kompatibilität mit textilen Basissystemen und eine höhere Flexibilität. Die in dieser Arbeit entwickelten Sensoren sind vielseitig einsetzbar und können in zahlreiche textile Strukturen, und vor allem gestrickter Strukturen, diverser Form und Größe übertragen werden.

Unter Beachtung industrienaher Anforderungen, die zusammen mit den am Projekt beteiligten Industriepartnern festgelegt wurden, wurden verschiedene Konzepte für Druck- und Näherungssensoren für einen Sensorhandschuh unter Nutzung von Flachstricktechnik entwickelt. Die bevorzugte Lösung für gestrickte Druck- und Näherungssensoren basiert auf einem Doppelschlauchgestrick, das einen flexiblen Plattenkondensator darstellt. Diese Sensoren bestehen aus Elektroden aus leitfähigem Garn und einem weichen Material, beispielsweise Silikon, das als Dielektrikum dient. Dadurch, dass das Material für das Dielektrikum flexibel gewählt werden kann, sind Messbereich und -verhalten auch für andere Anwendungen mit diesem Konzept einfach zu variieren. Für die Druckmessung wurde das Ansprechverhalten der entwickelten Sensoren eingehend getestet, und ihre Stabilität analysiert und ein funktionsgerechtes Messverhalten der Sensoren im Messbereich 0 bis 10 N festgestellt.

Die Vorzugsvariante der Sensoren wurde in einem Funktionsdemonstrator mit 13 Sensorflächen umgesetzt. Dies sollte in weiteren Arbeiten um 6 weitere Sensorflächen für die einzelnen Fingergelenke von Ring- und kleinem Finger ergänzt werden. Die Anzahl der Sensorflächen war in diesem Projekt durch die Anzahl der verfügbaren Fadenführer begrenzt. Weiterhin sollte das Einlegen des dielektrischen Inserts stärker automatisiert werden um die Zeit, die benötigt wird um die Drucksensorhandschuhe zu stricken, reduziert wird.

Danksagung

Das IGF-Vorhaben 21990 BR der Forschungsvereinigung Forschungskuratorium Textil e.V., Reinhardtstr. 12-14, 10117 Berlin wurde über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der industriellen Gemeinschaftsforschung und -entwicklung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert.

Die Autoren danken den genannten Institutionen für die Bereitstellung der finanziellen Mittel. Der Forschungsbericht und weiterführende Informationen sind am Institut für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik der TU Dresden erhältlich.

 

Literatur

 

[1]   K. Ettle et al., "Telepräsenzroboter für die Pflege und Unterstützung von Schlaganfallpatientinnen und -patienten (TePUS) im Regierungsbezirk Oberpfalz: DeinHaus 4.0," Regensburg, Jun. 2020. Accessed: Nov. 30 2020.

[2]   K. Berkenkamp, "Telerehabilitation in der Schlaganfallversorgung – Einflussfaktoren auf Adoption und Akzeptanz von klinisch tätigen Ärzten und Therapeuten," 2020.

[3]   J. Mersch, C. A. G. Cuaran, A. Vasilev, A. Nocke, C. Cherif, and G. Gerlach, "Stretchable and Compliant Textile Strain Sensors," IEEE Sensors J., vol. 21, no. 22, pp. 25632–25640, 2021, doi: 10.1109/JSEN.2021.3115973.

[4]   S. Fischer, C. Böhmer, S. Nasrin, C. Sachse, C. Cherif. Flat-Knitted Double-Tube Structure Capacitive Pressure Sensors Integrated into Fingertips of Fully Fashioned Glove Intended for Therapeutic Use. Sensors 2024, 24, 7500. https://doi.org/10.3390/s24237500

 

 

Authors: Carola Bömer

Technische Universität Dresden
Fakultät Maschinenwesen
Institut für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik (ITM)
01062 Dresden

https://tu-dresden.de/mw/itm

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15.05.2023

Google Lens in der Altkleidersortierung

Recycling Sustainability Circular economy Interior Textiles Fashion

Abstract

Die Textilindustrie steht vor enormen ökologischen Herausforderungen, die auf ein lineares Wertschöpfungsmodell zurückzuführen sind. Gegenwärtig fallen 7 bis 7,5 Millionen Tonnen textiler Reststoffe in der EU-27 und der Schweiz jährlich an - dies entspricht mehr als 15 Kilogramm pro Person. Die größte Quelle dafür sind entsorgte Kleidungsstücke und Heimtextilien von Verbrauchern - sie machen etwa 85 Prozent der gesamten textilen Reststoffe aus. Diese großen Mengen an textilen Reststoffen müssen sortiert und verarbeitet werden.

Google Lens ist eine Bilderkennungssoftware von Google, die auf maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz basiert. Mit Hilfe der Kamera eines Smartphones kann Google Lens Bilder von Objekten, Texten oder Landschaften erfassen, diese erkennen und interpretieren. Die Technologie ist in der Lage, eine Vielzahl von Objekten und Materialien zu identifizieren und auf entsprechende Webseiten zu verweisen.

In einer Versuchsreihe am Institut für Textiltechnik wurde der Einsatz von Google Lens in der Altkleidersortierung getestet. Dabei stand die Auswertung der Genauigkeit von Google Lens zur Erkennung von verschiedenen Merkmalen im Vordergrund. Insgesamt zeigen die Ausführungen in diesem Artikel, dass Google Lens noch keine adäquate Lösung für die automatisierte Auswertung in der Altkleidersortierung darstellt. Die Ausführungen zeigen allerdings auch Potentiale für die Weiterentwicklung der Technologie auf. Auch eine Kombination mit weiterer Sensorik (z. B. NIR) oder eigens entwickelten Algorithmen zur Bildauswertung ist vielversprechend.

Report

Abstract:

Die Textilindustrie steht vor enormen ökologischen Herausforderungen, die auf ein lineares Wertschöpfungsmodell zurückzuführen sind. Dieses kennzeichnet sich durch kurze Nutzungsdauern, eine geringe Wiederverwendungsquote und geringes Faser-zu-Faser Recycling der Textilien. So wird ein großer Teil der nicht wiederverwendbaren textilen Reststoffe deponiert oder energetisch verwertet. Die Alttextilien werden von Sortierbetrieben entweder für das Recycling oder für den Weiterverkauf vorbereitet. Hier benötigt es neue Technologien zur Merkmalserkennung von Textilien, um die manuellen Prozessschritte zu ersetzen und zu verbessern. Herausforderungen der bisher händischen Sortierung sind der Arbeitskräftemangel und die unzureichende Objektivität und Qualität der Sortierung. In diesem Artikel werden neue Lösungen zur Automatisierung der Merkmalserkennung ausgewertet.

Herausforderungen in der Altkleidersortierung

Gegenwärtig fallen 7 bis 7,5 Millionen Tonnen textiler Reststoffe in der EU-27 und der Schweiz jährlich an - dies entspricht mehr als 15 Kilogramm pro Person [HJL+22]. Die größte Quelle dafür sind entsorgte Kleidungsstücke und Heimtextilien von Verbrauchern - sie machen etwa 85 Prozent der gesamten textilen Reststoffe aus. Diese großen Mengen an textilen Reststoffen müssen sortiert und verarbeitet werden. Aktuell wird die von Verbrauchern aussortierte Kleidung in Altkleidercontainern entsorgt. Von dort aus werden sie in Sortierbetriebe transportiert, in denen jedes Kleidungsstück inspiziert und händisch in verschiedene Kategorien sortiert wird. Es wird beispielsweise zwischen Qualität oder Art des Materials unterschieden. Diese Schritte gilt es zu automatisieren, um die Anzahl der Fehlsortierungen zu reduzieren und die Limitationen der manuellen Sortierung zu überwinden. Die manuelle Sortierung von Altkleidern ist durch den Arbeitskräftemangel und die unzureichende Qualität stark limitiert. Es gibt erste Ansätze, um die Herausforderungen zur Merkmalserkennung der Textilien zu lösen. Durch Nahinfrarotspektroskopie kann beispielsweise das Material des Textils erkannt und identifiziert werden. Allerdings können mit der Technologie weitere wichtige Merkmale wie die Art des Kleidungsstücks, die Marke und der Zustand nicht analysiert werden. Für die Auswertung dieser Merkmale können allerdings Bildverarbeitungssysteme verwendet werden. Einen Ansatz für die Auswertung von Bildmerkmalen bietet die Software Google Lens.

Die Funktion von Google Lens

Google Lens ist eine Bilderkennungssoftware von Google, die auf maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz basiert. Mit Hilfe der Kamera eines Smartphones kann Google Lens Bilder von Objekten, Texten oder Landschaften erfassen, diese erkennen und interpretieren. Die Technologie ist in der Lage, eine Vielzahl von Objekten und Materialien zu identifizieren und auf entsprechende Webseiten zu verweisen. Die Suchergebnisse werden nach Relevanz und Ähnlichkeit mit dem Objekt auf dem Foto klassifiziert. [Taf21] Darüber hinaus kann Google Lens auch QR-Codes scannen und automatisch Webseiten öffnen, Adressen suchen und Termine in den Kalender eintragen. Die Software ist auch in der Lage, Texte in anderen Sprachen zu erkennen und zu übersetzen, was besonders nützlich für Reisende ist. Insgesamt bietet Google Lens eine schnelle und effektive Möglichkeit, visuelle Informationen zu interpretieren und zu nutzen, um den Benutzern eine bessere Erfahrung zu bieten. Diese Eigenschaften machen einen Einsatz von Google Lens in der Altkleidersortierung interessant. Die Software ist bereits mit einer großen Menge von Daten trainiert und ermöglicht einen gezielten Zugriff auf sämtliche im Internet vorhandene Informationen zu einem Kleidungsstück.

Google Lens für die Sortierung von Altkleidern

In einer Versuchsreihe am Institut für Textiltechnik wurde der Einsatz von Google Lens in der Altkleidersortierung getestet. Dabei stand die Auswertung der Genauigkeit von Google Lens zur Erkennung von verschiedenen Merkmalen im Vordergrund. In dem Versuch wurde die Informationsgewinnung durch den Einsatz von Google Lens in den folgenden sechs Merkmalen geprüft:

  • Typ des Textils bzw. Art der Bekleidung
  • Farbe
  • Material
  • Marke
  • Preisklasse
  • Geschlecht

Die Versuchsdurchführung ist in die folgenden drei Schritte aufgeteilt: Aufnahme von Bildern, Auswertung der Bilder mit Google Lens und Auswertung der fünf relevantesten Suchergebnisse hinsichtlich der sechs Merkmale. Die Aufnahme der Bilder erfolgt in einem statischen Versuchsaufbau. Die Textilien werden auf einem ebenen Untergrund ausgebreitet und von oben unter Beleuchtung fotografiert (siehe Abbildung 1). Für die Auswertung des Versuches werden die sechs Merkmale in definierte Ausprägungen eingeteilt (z. B. werden sechs Preisklassen definiert). Die Auswertung erfolgt anhand der ersten fünf von Google vorgeschlagenen Ergebnisse. Für die Vergleichbarkeit der Ergebnisse erfolgt eine Einteilung in ein Punktesystem: pro Textil wird je ein Punkt pro Merkmal und Treffer vergeben, wenn dieses Merkmal richtig erkannt wird, sodass pro Textil und Treffer maximal 6 Punkte zu vergeben sind. Ein Merkmal gilt als richtig erkannt, wenn die Information eindeutig aus dem Text auf der weitergeleiteten Webseite hervorgeht. Insgesamt werden 90 Textilien ausgewertet. Die Trefferquote wird als Quotient aus der erreichten Punktzahl und der maximal erreichbaren Punktzahl angegeben.

Zunächst erfolgt eine Auswertung des Einflusses des Alters eines Textils auf die Treffergenauigkeit: neuere Textilien erreichen eine Treffergenauigkeit von 32,96 %, wohingegen ältere Textilien (älter als 30 Jahre) eine Treffergenauigkeit von lediglich 22,58 % erreichen. Dieser Umstand ist auf die höhere Verfügbarkeit von Daten neuer Textilien zurückzuführen. Auch bei der Art der Textilien zeigen sich Unterschiede in der Auswertung: Heimtextilien weisen lediglich eine Trefferquote von 15,00 % auf, wohingegen Textilien in der Kategorie „Bluse/Hemd“ eine Trefferquote von 45,33 % aufweisen. Am besten wird die Art der Bekleidung erkannt (56,22 % Trefferquote), wohingegen die Marke nur zu 4,67 % erkannt wird. Dieser Umstand ist sowohl auf die große Ähnlichkeit verschiedener Marken als auch auf die teilweise nur geringe direkte Erkennbarkeit von Markennamen oder Logos zurückzuführen. Auch das Material wird nur zu ca. 13,11 % richtig erkannt, da dieses Merkmal nicht direkt visuell zu erkennen ist. Zuletzt bietet auch die Betrachtung der Unterschiede in Abhängigkeit der Relevanz der Treffer kein eindeutiges Ergebnis: beim ersten und relevantesten Treffer liegt die durchschnittliche Trefferquote bei 29,66 % und beim zweiten bis fünften Treffer ebenfalls zwischen 25,19 % und 32,09 %. Anzumerken ist allerdings, dass die Ergebnisse insgesamt nicht ausreichend sind. Für einen sinnvollen Einsatz der Technologie sind Trefferquoten von ca. 90-95 % erforderlich. So lässt sich insgesamt feststellen, dass Google Lens mit dem gewählten Versuchsaufbau und der gewählten Auswertelogik nicht für den Einsatz in der Altkleidersortierung geeignet ist.

 

Weiterentwicklung der Technologie

Eine Lösungsmöglichkeit zur Weiterentwicklung der Technologie liegt in der erweiterten Auswertung von Informationen. Zum Beispiel können zusätzlich auch Bilder auf der Webseite (z. B. Fotos von Etiketten) oder der Seitenquelltext ausgewertet werden. Außerdem ist die Einteilung der Merkmalskategorien kritisch zu prüfen, da diese einen erheblichen Einfluss auf die Auswertung hat. Weiterhin sind Änderungen am Versuchsaufbau denkbar: eine Lösung könnte z. B. in der Aufhängung von Textilien bestehen oder in der Änderung der Beleuchtung. Außerdem kann die Suche in Google Lens mit Texten verknüpft werden, sodass eine Suche näher eingegrenzt und mit zusätzlichen Sensoren verknüpft werden könnte. Diese Lösungsmöglichkeiten werden in weiteren Projekten und Versuchen am ITA weiterentwickelt.

Insgesamt zeigen die Ausführungen in diesem Artikel, dass Google Lens noch keine adäquate Lösung für die automatisierte Auswertung in der Altkleidersortierung darstellt. Die Ausführungen zeigen allerdings auch Potentiale für die Weiterentwicklung der Technologie auf. Auch eine Kombination mit weiterer Sensorik (z. B. NIR) oder eigens entwickelten Algorithmen zur Bildauswertung ist vielversprechend.

Bildunterschriften:

Abbildung 1: Aufbau des Versuches (eigene Darstellung)

Literatur:

[HJL+22]                       Hedrich, Saskia; Janmark, Jonatan; Langguth, Nikolai; Magnus, Karl-Hendrik; Strand, Moa:
Scaling textile recycling in Europe - turning textile waste into value: Juli 2022

[Taf21]                           Taffel, S.:
Google’s lens: computational photography and platform capitalism
Media, Culture & Society Band:43 (2021) H. 2, S. 237–25
5

Authors: Pohlmeyer, Florian* Johannsen, Hanna* Möbitz, Christian* Gries, Thomas* Kleinert, Tobias

*alle: Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen University, Otto-Blumenthal-Str. 1, 52074 Aachen

Kleinert, Tobias (Lehrstuhl für Informations- und Automatisierungssysteme für die Prozess- und Werkstofftechnik der RWTH Aachen University, Turmstr. 46, 52064 Aachen)

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18.10.2022

In-situ-Strukturüberwachung von Faserkunststoffverbunden unter Druckbeanspruchung

Yarns Composites Sensor Technology Sustainability Technical Textiles Tests

Abstract

Die kontinuierliche Strukturüberwachung von FKV-Bauteilen vor allem in komplexen, wechselnden Belastungsszenarien stellt einen effizienten Lösungsansatz dar, um frühzeitig potenziell auftretende Ermüdungserscheinungen oder Schäden zu detektieren. Gerade in FKV-Bauteilen sind textilbasierte Sensoren eine wirtschaftliche Lösung zur kontinuierlichen In-situ-Strukturüberwachung, aufgrund ihrer direkten textiltechnischen Integration während der Flächenbildung und hohen Strukturkompatibilität.    

Das in diesem Forschungsprojekt entwickelte textilbasierte Sensorkonzept wurde auf der Garn- und Verbundebene elektromechanisch charakterisiert und wurde im Multiaxialkettenwirken zu funktionalisierten Gelegen und fortführend in etablierten Verbundbildungstechnologien zu CFK-Proben weiterverarbeitet sowie umfangreich in Zug-, Druck- und Biegeversuchen charakterisiert. Anhand eines CFK-Profil Demonstrators wurde die praktische Umsetzbarkeit und Funktionsfähigkeit erprobt und bewiesen. Diese „Smart-Composites“ ermöglichen nicht nur eine kontinuierliche In-situ-Strukturüberwachung von FKV-Bauteilen unter Zug-, Biege- und vor allem Druckbeanspruchung, sondern können auch für die Detektion von Riss- und Delaminationsvorgängen eingesetzt werden. Dadurch können sowohl das Verständnis des Materialverhaltens verbessert und für zukünftige Auslegungen berücksichtigt als auch erforderliche Maßnahmen zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems eingeleitet werden.

Report

Einleitung

Faserverstärkte Verbundstrukturen (Composites) werden gegenwärtig u. a. in den Bereichen des Maschinen-, Flugzeug- und Automobilbaus aufgrund der ausgezeichneten mechanischen Eigenschaften bei gleichzeitig höchstem Leichtbaupotenzial eingesetzt [1]. Auch im Bausektor finden Hochleistungstextilien, substituierend zur Stahlbewehrung, zunehmend Anwendung im Carbonbeton [2], aufgrund ihrer mechanischen sowie chemischen Eigenschaften und der daraus resultierenden ressourcenschonenden, filigranen Leichtbauweise. Die langzeitstabile Funktionsfähigkeit und Sicherheit von faserverstärkten Verbundstrukturen ist durch den häufigen Einsatz in sicherheitskritischen Komponenten und Strukturen dringend erforderlich. Ein vielversprechender praxisorientierter Lösungsansatz stellt hierbei die kontinuierliche Strukturüberwachung dar, um die (Rest-)Tragfähigkeit zu quantifizieren und um ggf. erforderliche Maßnahmen zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit einzuleiten.  
Eine besonders wirtschaftliche und strukturkompatible Lösung sind textilbasierte Sensoren, die während der Herstellung der textilen Verstärkungshalbzeuge integriert und zur Erfassung komplexer Lastfälle sowie Riss- und Delaminationsvorgänge auf Verbundebene eingesetzt werden. [3 – 6]

Textilbasierte Dehnungssensoren werden prinzipbedingt vorwiegend zur Überwachung in zugbeanspruchten Verbundstrukturen eingesetzt. Um zuverlässige Aussagen über strukturelle Veränderungen und kritische Überlastzustände auch in komplex überlagerten Beanspruchungsszenarien (bspw. Zug- und Druckbeanspruchungen) ableiten zu können, wurden im IGF-Projekt 21169 BR textilbasierte druckmessfähige Sensorsysteme zur kontinuierlichen In-situ-Strukturüberwachung für FKV entwickelt.

Zielsetzung und Lösungsweg

Das Ziel des IGF-Forschungsprojekts war die Entwicklung, Charakterisierung und Erprobung textilbasierter druckmessfähiger Sensorsysteme und deren textiltechnische Integration im Multiaxialkettenwirken zur Herstellung sensorisch-funktionalisierter textiler Verstärkungshalbzeuge für den Einsatz in FKV. Das Anforderungsprofil an die textilen Sensoren wurde anhand eines Funktionsdemonstrators simulationsgestützt abgeleitet und gezielt darauf ausgelegt strukturelle Deformationen durch einwirkende Zug-, Biege- und vor allem Druckbeanspruchungen zu erfassen. Hierfür wurde der Ansatz verfolgt, die Drucksensitivität von textilen Sensoren durch die gezielte Einstellung und Aufrechterhaltung einer Vorspannung bzw. -dehnung zu erhöhen. Das Sensorverhalten wurde umfangreich in elektromechanischen Untersuchungen auf Faser- und Verbundebene analysiert und am Funktionsdemonstrator erprobt.

Danksagung

Das IGF-Vorhaben 21169 BR der Forschungsvereinigung Forschungskuratorium Textil e.V., Reinhardtstr. 12-14, 10117 Berlin wurde über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der industriellen Gemeinschaftsforschung und -entwicklung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert.

Authors: Le Xuan, Hung; Seidel, André; Hahn, Lars; Nocke, Andreas; Cherif, Chokri

Technische Universität Dresden
Fakultät Maschinenwesen
Institut für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik (ITM)
01062 Dresden

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